Geburtstag der AltbundeskanzlerinIch vermisse Merkel, obwohl ich sie nie gewählt habe
Ein Essay vonSheila Ananda Dierks
Ich bin mit Angela Merkel erwachsen geworden und Teil der »Generation Merkel«. Heute wird sie 70 Jahre alt, und sie fehlt – nicht nur, weil sie eine Frau ist.
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Als Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, war ich fünf Jahre alt und nannte sie »Angelika«. Als sie diesen Satz sagte, der bis heute nachhallt: »Wir schaffen das!«, fieberte ich darauf hin, offiziell mein erstes Bier kaufen zu dürfen. Und als sie am Anfang der Pandemie der Nation verkündete: »Es ist ernst!«, reiste ich mit dem Rucksack durch Australien.
Während Angela Merkel das Land regierte und die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Coronakrise – mal besser, mal schlechter – managte, bin ich erwachsen geworden. Damit gehöre ich zur sogenannten Generation Merkel. Obwohl ich sie nie gewählt habe, prägte sie mich. Heute wird Merkel 70 Jahre alt und ich merke, dass ich sie vermisse. Das hat vor allem zwei Gründe.
Merkel veränderte viel. Das fing schon damit an, dass sie die erste und bisher einzige Frau in ihrer Position als deutsche Regierungschefin war. Im Jahr ihres Amtsantritts 2005, wurde der Begriff »Bundeskanzlerin« zum Wort des Jahres 2005 gekürt, während man noch einige Jahre zuvor wohl »Frau Bundeskanzler« hätte sagen müssen. Damals habe ich davon noch nicht viel verstanden, mittlerweile weiß ich: Nicht einmal eine geschlechtergerechte Berufsbezeichnung ist in dieser Welt selbstverständlich.
Frauen an die Macht!
Wenn ich mir heute den Bundestag anschaue, sehe ich vor allem Männer. Frauen sind in der Politik unterrepräsentiert: Gerade mal ein Drittel der wichtigen politischen Ämter werden aktuell von ihnen besetzt. Dabei belegen Studien, dass Frauen im Durchschnitt empathischer sind als Männer. Dass der Bundestag immer noch so wenig divers besetzt ist, finde ich frustrierend. Denn für mich hat Merkel Frauen in der Politik sichtbar gemacht. Sie hat mir mitgegeben: Frauen an die Macht!
Dabei hat sie ihr Frausein nie vor sich hergetragen, auch wenn immer mal wieder Debatten über ihr Dekolleté geführt wurden. Sie hat einfach gemacht – und ist zu ihrer Zeit so zur mächtigsten Frau der Welt geworden, die weltweit respektiert wurde.
Selbst wenn sie nicht mit jedem Politiker ein so freundschaftliches Verhältnis hatte wie mit dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama oder dem französischen Regierungschef Emmanuel Macron, ihre Souveränität behielt sie stets bei. Als Donald Trump sich weigerte, ihr die Hand zu schütteln, lächelte Merkel das weg. Und auch von Wladimir Putin ließ sie sich nicht beeindrucken, der zu einem Gespräch seinen Labrador mitbrachte, wohl wissend, dass sie Angst vor Hunden hat.
Die Mutti der Nation
Es scheint, als hätte Merkel früh verstanden, dass sie auf ein öffentliches Image einer rebellischen Feministin verzichten muss, um ernst genommen zu werden – schließlich waren damals auch noch andere Zeiten. Erst nach ihrer Zeit als Bundeskanzlerin bezeichnete sie sich selbst erstmals als feministisch.
Merkel bewahrte immer die Ruhe und gab mir das Gefühl, sie hätte »alles im Griff«. Diese Sicherheit erinnert mich an eine mütterliche Stabilität wie ich sie aus dem Elternhaus kenne. Sie war quasi die Mutti der Nation, die einfach da war, ohne dass ich das je hinterfragt hätte. Sicherheit ist für Menschen, neben Familie, Gesundheit und Freiheit ein wesentliches Bedürfnis und für mich persönlich ein wichtiger Faktor, um glücklich zu sein. Ungewissheit macht mir Angst, erst recht, wenn ich den Kampf dagegen nicht selbst in der Hand habe. In Zeiten von zunehmender Macht rechter Parteien, Kriegen und einem wackelnden Amerika sehne ich mich nach einer Konstanten, wie Merkel sie war, zurück, die mit starken Sätzen ein wenig Optimismus verbreitet.
»Merkel-Mentalität« statt Aktentaschen
Angela Merkel war bei jungen Menschen sehr beliebt – auch wenn sich ihre Politik nicht explizit an eine junge Generation richtete. Viele nannten sie »Angie«, andere posierten im Wahlkampf mit der Merkel-Raute. Auch wenn sie für vieles kritisiert wurde, auch wenn viele die aktuellen politischen Probleme und Herausforderungen als Folge ihrer Politik lesen, und auch wenn einiges in der teils kindlichen Erinnerung vielleicht besser erscheint, als es damals war, schaffte sie es, eine Kanzlerin der Mitte zu sein.
Jetzt bin ich 24 Jahre alt, stehe am Anfang meiner beruflichen Karriere und finde, statt nichtssagende Aktentaschen auf TikTok zu zeigen, bräuchte es in Zeiten der gesellschaftlichen und politischen Unsicherheit eine neue »Merkel-Mentalität«: mehr Gelassenheit, mehr Ruhe, mehr rationalen Optimismus. Und vor allem: mehr mächtige Frauen in der Politik.